Selbstverteidigung und waffenlose Abwehr – Teil 4: Der Kragengriff

Im vorherigen Teil unserer Serie "Selbstverteidigung" haben wir uns ausführlich damit beschäftigt, dass es wichtig ist, einen Plan zu haben und diesen im Notwehrfall auch konsequent umzusetzen. Die Idee dabei ist es, anstatt – wie in traditionellen Kampfkünsten und Selbstverteidigungssystemen üblich – unzählige Abwehrtechniken beherrschen zu müssen, eine einzige, prinzipielle "Standardsequenz" an Schlägen und Tritten einzustudieren, die nahezu universell einsetzbar ist.

Rückblick: Grundhaltung und Abwehr des Schwingers 

Wie schon im dritten Teil erläutert, besteht der von mir in meinem "Practical Unarmed Combatives" Programm gelehrte Bewegungsablauf für eine erfolgreiche Defensive aus der Bereitschaftshaltung mit nach vorne ausgerichtetem, linkem Fuß, einem linken geraden Handstoß (wie bei einem "Jab" im Boxen), weiteren Handflächenstößen mit der rechten und linken Hand, einem rechtsseitigen, horizontalen Ellbogenstoß sowie einem abschließenden, rechten Kniestoß (mit eventueller Fußfalle). Beim letzten Mal haben wir diese vielseitige Basisabwehr gegen einen rechten Seitenhaken oder Schwinger erläutert.

Weit verbreitet: Der Griff des Angreifers zum Kragen oder Revers 

Ausführung eines Hammerschlags zur Abwehr eines linken Kragengriffs. Demonstriert von zwei Männern.
Die Standardabwehr bei einem Angriff mittels linken Kragengriffs und anschließendem rechten, kraftvollen Fausthiebs. Die linke Greifhand des Aggressors wird mit einer rechten Hammerfaust abgewehrt.

Diesmal soll es aber um die Verteidigung gegen eine ebenfalls sehr weit verbreitete Straßenattacke gehen: einen Griff an den Kragen oder an das Revers mit der linken Hand, um einen rechten, harten Schlag folgen zu lassen. Ganz nebenbei werden wir hierbei mehr Details über das Potential unserer standardmäßigen Abwehrsequenz erfahren und wie wir sie auf die Dynamiken unterschiedlicher Situationen abstimmen können. Doch beschäftigen wir uns zuerst mit der Angriffsmethode. Es ist für geübte Angreifer üblich, ihr Opfer mit der nicht dominanten Hand zu greifen oder zu berühren, bevor sie mit der starken Hand zuschlagen. Ich habe Hunderte von Überwachungsfilmen aus der ganzen Welt analysiert und diese Methode immer wieder beobachten können. Unabhängig von Herkunft und Kultur nutzt der Mensch instinktiv seine schwache Hand, um sein Gegenüber zu berühren, abzumessen oder zu kontrollieren und um somit wiederum den Standort und die Entfernung zum Ziel akkurat bestimmen zu können, bevor er zuschlägt. Weil dieser Instinkt so stark ausgeprägt ist und so gut in der Praxis funktioniert, ist er auch Bestandteil unserer Abwehrsequenz. Im Umkehrschluß bedeutet das natürlich auch, dass wir, wenn immer es uns möglich ist, probieren werden, diese Form der Annäherung zu unterbinden, wenn sie gegen uns angewandt wird. Was ist also die beste Abwehr eines Kragengriffs mit anschließendem Faustschlag? Es beginnt damit, dass wir es dem Aggressor nicht erlauben, uns zu greifen.

Angriff auf der Straße: Da platzt einem der Kragen

Dies verhindert, dass er uns kontrolliert und effektiv die Distanz messen kann – er hat es schwerer, uns zu treffen. Um das mit unserer Basisabwehr in Einklang zu bringen, ist es die beste Taktik, die Anfangssequenz der linken Geraden einfach wegzulassen und direkt zur nächsten Bewegung des rechten Hammerfaustschlags überzugehen. Wenn der Angreifer also seine Linke ausstreckt, um uns zu packen oder er uns schon gegriffen hat (weil wir zu langsam waren), hämmern wir mit unserer rechten Faust auf seine linke Hand oder das linke Handgelenk und lassen sofort den nächsten, linken geraden Handflächenstoß folgen (was technisch gesehen die dritte Bewegung unserer Basisabwehrsequenz darstellt). Dieser Stoß kann unterschiedlich gestaltet werden, abhängig von unserer Absicht, Präzision und der Reaktion unseres Gegenübers auf den bereits ausgeführten Hammerfaustschlag. Wir können ihn nutzen, um seine rechte Hand oder Schulter zu blocken, bevor er überhaupt zum Schlag ausholen kann. Eine noch bessere Möglichkeit ist es, einen direkten Schlag in seinem Gesicht zu landen, weil es einerseits sofort Eindruck beim Gegner hinterlässt und andererseits sein Gesichtsfeld einschränkt , was wiederum das Risiko eines gegnerischen Treffers verringert. Kann er jedoch seinen rechten Schlag abfeuern, dient unser ausgefahrener linker Arm immer noch als Ablenkrampe , so dass sein Angriff halbwegs wirkungslos verpufft. Die nächste Bewegung ist eine natürliche Fortsetzung der "kreisenden" Aktion, die wir mit unserer rechten Hand begonnen haben. Nachdem wir die linke Greifhand des Aggressors mit unserer Hammerfaust nach unten weg geschlagen haben, lassen wir unsere Rechte in einem natürlichen Kreisbogen in einen weiteren, nach unten gerichteten Hammerschlag fließen. Haben wir es bereits geschafft, mit unserem linken Handflächenstoß einen Treffer zu landen, kann diese Hand nun als "Führung" dienen, damit wir mit der Rechten präzise treffen.

Mann wehrt Angreifer mit Handflächenstoß zum Kopf ab.
Es folgt ein linker Handflächenstoß zum Kopf, wodurch gleichzeitig sein rechter Schlag abgelenkt wird...
Das Opfer kontrolliert den rechten Ellbogen seines Angreifers zur Selbstverteidigung.
...dann wird sein rechter Schlagarm oberhalb des Ellbogens kontrolliert und es folgt in einer natürlichen Bewegung ein weiterer Hammerschlag zum Kopf.

Zielen mit der linken Hand und abschließender Kniestoß

Mann stößt einem Angreifer mit dem Knie in die Leistengegend.
Abgeschlossen wird mit einem Kniestoß in die Leistengegend oder den inneren Oberschenkel.

Wenn wir mit unserer linken Hand seinen Kopf berühren, zielen wir mit der Rechten in den gleichen Bereich. Unsere Rechte wird aufgrund des bereits erklärten instinktiven "Messvorgangs" schnell und einfach ihr Ziel finden. Auch wenn wir nicht exakt die identische Zielfläche treffen mögen, probieren wir mit  unserer rechten Handfläche oder Faust hart zu schlagen und fokussieren hierbei auf Nase, Hals- oder Kopfseite sowie Schlüsselbein. Man wird bemerken, dass sich beim rechten Schlag aufgrund der Schulterdrehung die linke Hand automatisch zurückzieht. Diese natürliche Rückwärtsbewegung kann dazu genutzt werden, um die rechte Armrückseite oberhalb des Ellbogens zu greifen, wodurch man seinen Kontrahenten kontrollieren und gezielter weitere Treffer setzen kann. Gemäß unserer Basisabwehrsequenz würden die nächsten Bewegungen üblicherweise ein weiterer Handflächenstoß mit der Linken, ein rechter horizontalen Ellbogenstoß und ein rechter Kniestoß oder tiefer Tritt sein. Doch je nach Situation kann man Teile der Sequenz ganz natürlich und einfach wegfallen lassen oder auch wiederholen. Beispiel: Sitzt unsere rechte Hammerfaust perfekt, wird unser Gegenüber ein wenig nach hinten gedrängt, was es schwierig machen könnte, den Ellbogenstoß sauber anzubringen, weil der Angreifer außer Reichweite ist. In diesem Fall passen wir unseren Bewegungsablauf an die Situation an und gehen direkt zum Kniestoß oder Tritt über. Der Kniestoß muss nicht zwingend auf den Unterleib ausgerichtet sein , weil er effektiv sein wird, egal was wir treffen. Ob wir nun den Unterleib oder die Außen- oder Innenseite seines Beines (gemeinsamer Wadenbeinnerv oder Oberschenkelnerv) treffen, die Aktion wird immer kraft- und wirkungsvoll sein. Der Kniestoß könnte auch sein Kniegelenk erwischen und somit seine Mobilität zerstören.


In der Notwehrsituation: Immer nach vorne sehen

Die Kombination aus Kniestoß, Tritt und Fußfalle passt sich automatisch den Gegebenheiten an. Findet der Kniestoß sein Ziel, erfährt man durch die Körperberührung eine sofortige Rückkoppelung. Setze deine Vorwärtsbewegung fort, um so viel Energie wie möglich zu übertragen und um den Fuß wieder auf den Boden aufzusetzen, um schnell Balance und Standhaftigkeit wiederherzustellen. Hat der Kniestoß sein Ziel verfehlt, kann durch den automatisch folgenden Kick und Vorwärtsschritt dennoch ein Treffer auf die Beine des Kontrahenten gelandet werden, wenn er sich innerhalb der Reichweite befindet. Landen wir aber mit unserem Vorwärtsschritt auf seinem Fuß, haben wir ihn gefangen. Nun hat man die Option, weiter nach vorne zu marschieren und einen weiteren linken Kniestoß anzusetzen während man seinen Fuß auf dem Boden festnagelt. Man sieht, dass die fundamentale Abwehrserie sehr flexibel und vielseitig sein kann. Im Training sollte man mit seinem Partner experimentieren und möglichst viele Variablen simulieren. Dadurch lernt man, die Bewegungsfolgen den speziellen Dynamiken unterschiedlicher Situationen anzupassen und gewisse Teilsequenzen wegzulassen oder auch zu wiederholen. 

Diesen Artikel gibt es auch in dieser Sprache: