Sammlerwaffe von steigendem Wert: VIS Radom in 9mm Luger. Ein unterschätzter Pistolenklassiker aus Polen

Grab von Piotr Wilniewczyc.
Das Grab des Konstrukteurs Piotr Wilniewczyc:
Vorn links sitzt die Marmorplatte mit dem Motiv der Radom-Pistole.

Wer einmal bei einem Besuch in Warschau auf den dortigen Friedhof gelangt, der mag eine Grabplatte mit besonderem Schmuck entdecken: Die Grabstätte von Piotr Wilniewczyc ziert nämlich vorn links eine Marmorplatte mit dem Relief einer Pistole. Dafür gibt es einen Grund: Wilniewczyc war einer von Polens bekanntesten Waffenkonstrukteuren – er war die treibende Kraft bei der Erfindung der Radom-Selbstladepistole (und der Mors-Maschinenpistole). Und dafür begeistern sich die Sammler immer mehr: 

Als im Mai 2021 das Münchner Auktionshaus Hermann Historica zur Versteigerung aufrief, gab es Rekordergebnisse. Unter anderem, weil das nach derzeitigem Kenntnisstand älteste Vorserienstück einer VIS Radom wz. 35 (= Modell 1935) den Besitzer wechselte. Denn das extrem seltene Stück mit der Seriennummer 0012 erzielte sage und schreibe 58.000 Euro plus Aufgeld. Damit rückte ein Waffentyp ins Zentrum des Interesses, der nicht nur zum polnischen Kulturerbe gehört, sondern auch eine abwechslungsreiche Geschichte vorweist. Hinzu kommt jener Aspekt, auf den William J. York in seinem grundlegenden Werk "VIS Radom – A Study and Photographic Album of Poland‘s Finest Pistol" verweist: "[...] ist es der Reichtum an Varianten bei der VIS, von schön gefinishten Vorkriegsstücken zu extrem grob, aber immer noch funktionstüchtigen Stücken aus der späten Kriegsphase, der die Sammler anzieht." Und jede Menge technischer Finessen gibt es auch – doch nun alles der Reihe nach.

Als Polen nach 1919 wieder einmal neu gegründet wurde und so die Zweite Polnische Republik entstand, stellte sich seitens des Militärs alsbald die Frage nach passender Bewaffnung. Die führte in den Folgejahren zu einer Diskussion darüber, welche Waffen überhaupt zu beschaffen seien. Beim Thema Selbstladepistole fasste man diverse Modelle ins Auge, von der FN 1903 über Colt M 1911 und Pistole 08 bis hin zu CZ 24. Zu den Gegnern eines Zukaufs aus dem Ausland gehörte der Militärschuldozent und Ex-Offizier Piotr Wilniewczyc, Experte für Ballistik und Konstrukteur bei den Staatlichen Rüstungsfabriken P.W.U.. Kurzerhand bot er an, eine neue Pistole zu konstruieren. Der technische Direktor der Staatlichen Karabinerfabrik Warschau P.F.K., Jan Skrzypinski, erfuhr von dem Projekt und zeigte sich interessiert. Skrzypinski war Fachmann für Fertigungstechnik. Also ein vielversprechendes Team. Man einigte sich darauf, es gemeinsam zu versuchen.

VIS Radom komplett von rechts.
Aktuell die wohl größte Radom-Rarität: Beim Münchner Auktionshaus Hermann Historica wurde ...
VIS Radom komplett von links.
... dieses Vorserienstück (Seriennummer 0012) versteigert – für 58.000 Euro.

Die Technik hinter der klassischen VIS Radom Pistole aus Polen:

Auf Basis der stark von der Colt M 1911 geprägten Rohzeichnung von Wilniewczyc begann das Duo mit der Arbeit. Bereits 1931 stellte es den ersten Prototypen vor. Auf den ersten Blick der Colt M 1911 immer noch sehr ähnlich, zeigen sich eigene Qualitäten auf den zweiten.

Patentzeichnung der VIS Radom.
VIS Random Pistole: Die Patentzeichnung verdeutlicht die Verriegelung und zeigt das gekapselte Vorholfederelement mit dem typischen Frontring.
  1. Die Griffform: Unverwechselbar ist der sich weit nach unten spreizende Griff, der aber in der Praxis zu einem ausgezeichneten Griffwinkel führt. Der Hahn der Vorserie wies noch kein Loch auf, das aber kam in der Serie.

  2. Der Entspannhebel, zu finden links hinten am Schlitten. Erste Prototypen hatten ihn noch nicht. Doch forderte angeblich die polnische Kavallerie derlei, um zu Pferd die Waffe mit einer Hand entspannen zu können. Das ergab Sinn: Drückt die Hand den Hebel nach unten, nimmt der den Schlagbolzen mit nach vorne und schlägt den Hahn ab. Ähnlich funktionierte bereits auch der Sicherungshebel der Walther PP/PPK.

  3. Der Zerlegehebel, linksseitig montiert. Er ist leicht mit der Sicherung der Colt M 1911 zu verwechseln, wäre da nicht oben ein kleiner Ansatz, der in eine entsprechende Ausfräsung des Schlittens passt. Ihn machte das Design der Schließfeder notwendig. Das Zerlegen: Nach Entfernen des Magazins kippen "Eingeweihte" die Pistole nach links und ziehen an der Schließfederstange. Das entlastet den Schlittenfanghebel; erfällt heraus. Den Zerlegehebel nach unten drücken, dann kommt der Schlitten mit Lauf unter Druck der Schließfeder nach vorne.

  4. Der Lauf: Er hat sechs rechtsdrehende Züge. Auch hier haben die Konstrukteure vereinfacht und verbessert. Auf den ersten Blick sieht das Auge nur einen Riegelkamm, der in die entsprechende Ausfräsung im Schlitten eingreift. Etwas weiter hinten ist der Lauf wulstartig erhöht. Dies ist der zweite Riegelkamm und der ist von außen zu erkennen, da er vorn im Auswurffenster anliegt. Fragt sich, ob das die erste Pistole mit dieser Verriegelungsweise war. Derlei fi ndet sich auch bei der französischen P 1935 S, auch als MAS 35 bekannt und ab 1939 produziert – sie verriegelt auch im Auswurffenster. Die Schweizerische Industrie-Gesellschaft (SIG) kaufte dieses Patent, setzte aber bei ihrer Pistole P210 noch auf konventionelle Riegelkämme und übernahm das Prinzip erst bei der P220. Jedoch reicht die Geschichte der Verriegelung im Auswurffenster weiter zurück – bis zur britischen Webley 1904. Aktuelle Informationen der Fabrik schreiben das Lauf-Design der VIS Radom dem bisher unbekannten Ingenieur Feliks Modzelewski zu. Er war in der Endphase der Radom-Konstruktion eingebunden.

  5. Die Steuerung der Entriegelung. Colt setzt auf das Kettenglied unter dem Lauf, das diesem die entsprechende Bewegung gestattet. FN ging bei der HP 35 den Weg mit einer am Lauf fest angefrästen Steuerkurve. Die entriegelt über einen separat ins Griffstück eingesetzten Bolzen. Bei der Radom ist es ähnlich. Nur ist die Steuerkurve einfacher gestaltet, das Gegenlager im Griffstück ausgefräst. Eindeutig eine Verbesserung, aber schwieriger herzustellen. Die Idee gab es bereits. Erfunden hatte sie ein unbekannter Konstrukteur entweder der Firma Gabilondo y Urresti (später: Llama-Gabilondo y Cía) oder der Firma Star Bonifacio Echeverría. Beide stellten bereits Mitte der 1920er Jahre entsprechende Waffen mit dieser Technik her, Gabilondo y Urresti eine Pistole Ruby, Star Echeverría eine Star P, jeweils im Kaliber .45 ACP. Originalstücke der Ruby sind heute praktisch nicht mehr vorhanden, es entstanden weniger als 1.000 Stück. (Diese Ruby ist nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Taschenpistole, mit Stückzahlen von mindestens 750.000 seitens Dutzender spanisch-baskischer Firmen von 1914 bis in die 1950er Jahre gefertigt.)

  6. Das geschlossene Schließfederset. Sowohl bei Colt wie auch bei FN ist die Schließfeder ein separates Teil, bei der Ruby und der Radom eine Einheit mit Führungsstange und vorderem als auch hinterem Lager. Dabei ist diejenige der Radom die erste, die zweiteilig und teleskopartig aufgebaut ist. Das wurde auch erst Jahrzehnte später Stand der Technik. Hintergedanke war eine zusätzliche Fallsicherung, falls die Pistole mit dem Lauf zuerst aufkommt. Dabei entriegelt die Waffe geringfügig, das reicht, damit sich kein Schuss lösen kann.
SIG P210 und VIS Radom im vergleich.
Konstruktiv braucht die VIS Radom keinen Vergleich zur SIG P 210 zu scheuen – gut
erhaltene Stücke liegen auch in Sachen
Präzision gleichauf.

Die sonstige Technik der VIS Random folgt dem seinerzeit bekannten Stand. Der Schlitten hat vorn eine eingepresste und verstiftete Laufführungshülse. Oben auf dem Schlitten befindet sich eine schmale guillochierte Schiene, die das Zielen erleichtern soll. Der linksseitige Magazinhalter entspricht wieder dem der Colt, ebenso der Hahn mit Sicherheitsrast, der Ausstoßer, die Griffsicherung und die Fangriemenöse. Der Griffrücken ist zum Anbringen eines Anschlagschafts ausgefräst. Aufwendig gefräst ist auch der Zubringer des Magazins für acht Patronen. Originale polnische Pistolen weisen diverse Prüfstempel aus den Fertigungsstadien auf. Daher auch der hohe Qualitätsstandard. Etwa die aufwendig bearbeitete Oberfläche: Sie zeigt außen keine und innen wenige Bearbeitungsspuren und trägt eine hochwertige dunkelblaue Streichbrünierung, vergleichbar derjenige der frühen FN HP 35. Griffschalenschrauben und Auszieher sind blau angelassen, letzterer trägt die Seriennummer. Er hatte Übermaß und musste bei jeder Waffe individuell angepasst werden. Alle anderen Teile sind austauschbar. Insgesamt: Man kann die VIS Radom mit der SIG P 210 gleichsetzen, ein geübter Schütze hält die Zehn!

Die VIS Radom Pistole unter deutscher Besatzung:

Schlitten von zwei VIS Radom im Detail.
Oben: frühe, erstklassig gefinishte VIS Radommit polnischem Beschuss, unten: Ein frühes Stück, das bei der deutschen Besetzung Polens entstanden ist.

Die Waffenfabrik in Radom überstand den Polenfeldzug relativ unbeschadet. Man stellte sie unter die Verwaltung der Steyr-Daimler-Puch AG in Steyr. Es dauerte bis Herbst 1940, ehe man sich entschloss, die Produktion wieder aufzunehmen. Die meisten Arbeiter waren verschwunden, so kam es zu Zwangsarbeit. Dazu gab es in Radom ein Außenlager des KZ Majdanek. Diese Zwangsarbeiter waren keine Fachleute und mussten erst angelernt werden. Die Fertigung lief erst im März oder April 1941 wie von den Besatzern gewünscht. Nachdem die vorhandenen polnischen Teile aufgebraucht waren, wurde immer weiter vereinfacht. Die Stempel: Waffenamtsabnahme "WaA77" auf Schlitten und Griffstück links, "Adler N"-Beschuss und "Adler 623" als Hinweis auf die Endmontage bei Steyr. Dies deshalb, um den Diebstahl von Waffen und Teilen in Radom zu verhindern. Etwas später versah man aus demselben Grund Schlitten und Griffstück mit einer individuellen gemeinsamen Inventarnummer, die Läufe kamen noch aus Steyr. Es nützte alles nichts, Radom-Pistolen fanden ihren Weg zur polnischen Heimatarmee. Im Zuge der Kriegsproduktion wurde die Technik stets weiter vereinfacht. Zuerst wurde der Auszieher vereinheitlicht, dann fiel der Zerlegehebel weg. Seine Funktion übernahm ein Fortsatz am Hahn, auf den sich der Innenteil des Entspannhebels abstützt. Die Fräsung für den Anschlagschaft und die Buchsen der Griffschalenschrauben entfielen. Es wurde feingeschlichtet, schließlich nur gefräst. Die Magazinzubringer der BNZ entsprechen denjenigen der P.38. Die Streichbrünierung gab man schon am Anfang zugunsten der schnelleren Tauchbrünierung auf. Das schadete dem Aussehen, jedoch nicht der Funktion. Als die Rote Armee Ende 1944 vorrückte, evakuierten die Deutschen die Produktionsanlagen aus Radom. Waffenteile entstanden jetzt im KZ Gusen II und im Sensenwerk Chr. Pisslinger in Molln. Nach massiven Bombardements der Steyr-Werke verlagerte man die Endmontage um die Jahreswende 1944-45 in die Auto-Ersatzteilwerkstätte Znaim. Auch hier fielen im Januar 1945 Bomben, die Produktion lief trotzdem weiter. Die letzten Radom-Pistolen mit dem Codezeichen BNZ haben eine graugrüne Phosphatierung und sind die zweitseltenste Variante dieser Pistole. Denn da gab es noch einen Nachzügler.

Frühe VIS Radom von rechts.
Frühe VIS Radom: polnischer Wappenadler, Patentangabe mit kleinem "p" ...
Frühe VIS Radom von rechts.
... und in erstklassiger Verarbeitung mit tadelloser Streichbrünierung.

Neuauflage der VIS Radom im Jahr 1992 als Lucznik Random:

1992 gab es gleichsam ein Remake der Pistole, gefertigt an historischer Stelle, nun "Łucznik" Radom. Es dauerte noch einige Jahre, dann konnte man in den USA und wohl auch in Polen die Radom in bekannt guter Qualität kaufen. 1.000 US-Dollar kostete die Pistole, mit der historischen Beschriftung und der Angabe des Fertigungsjahres 1997. Allerdings wurden nur 26 Stück mit den Nummern A00001 bis -26 produziert: Die seltenste Radom überhaupt. Es gab immer mal wieder Gerüchte, dass die Produktion wieder aufleben sollte – bis jetzt geschah das nicht.

Sammlerpistole VIS Radom wz. 35: Technische Daten und Preis

Modell: VIS Radom wz. 35
Preis:ab ca. 1.000,- Euro
Kaliber:9 mm Luger
Kapazität:8 + 1 Patronen
Maße (L x B x H):205 x 32 x 140 mm
Lauflänge:120 mm
Visierlänge:156 mm
Gewicht:1030 g
Ausstattung:Single-Action-Pistole mit modifizierter Browning-Verriegelung, Ganzstahlbauweise, brüniert, Kunststoffgriffschalen, Vorserie: Holz.

Unsere Einschätzung zur Radom-Pistole aus der Sicht für Sammler:

Holster für die VIS Radom.
Polnische Radom-Tasche: Klappe mit  Verschlusslasche zum Durchstecken und anschließenden Sichern per Knopfdorn, tragbar per Schulterriemen (mit Karabinerhaken) oder mittels Koppelschlaufe. Mit Putzstock und  zwei Magazintaschen.

Die Preise für polnische Radom-Pistolen steigen derzeit rasant. Polen mit seinem liberalen Waffengesetz macht es seinen Bürgern relativ einfach, eine zu erwerben. So kommen sie je nach Zustand ab zirka 2.500 Euro nach Hause. Eine gute Alternative ist die frühe deutsche Fertigung. Qualitativ fast genauso gut, ist nur die Brünierung nicht so schön. Dafür aber der Preis, ungefähr ab 1.000 Euro in gutem Befinden. Die "abgespeckte"“ Radoms gehen so bei 600 Euro los, die seltene BNZ erhält man im Bereich von 1.500 Euro. Die "neue" Radom hingegen ist kaum zu bekommen. Wer sie hat, gibt sie nicht her. Ein deutscher Sammler organisierte vor zirka 30 Jahren nach der Originalzeichnung die Fertigung des nie hergestellten Anschlagschafts in geringer Stückzahl. Nun ebenfalls eine Rarität, liegt er bei ungefähr 500 Euro, ist aber nicht auf dem Markt zu entdecken. 

Ebenso gesucht ist die originale Verwahrtasche. Für die werden schnell 1.000 Euro fällig, wenn der originale Putzstock dabei ist. Die polnische Radom-Tasche ist von bester Qualität, sie bietet Platz für die Pistole, zwei Reservemagazine und den Putzstock. Gefertigt aus braunem Leder, ließ sie sich mittels Schlaufe am Gürtel und mit Riemen bequem über der Schulter tragen. Die Sattler brachten teilweise ihren Gummistempel innen an. Die deutsche Tasche zur Radom, ebenfalls aus braunem Leder, ist viel einfacher. Sie hat eine aufgenähte Magazintasche und einen Heberiemen, um leichter an die Waffe zu kommen. Dieser Riemen fiel bei späten Varianten weg, die Tasche ließ sich nur am Gürtel tragen. Innen war sie teilweise gummigestempelt: "Radom" oder "BNZ". Die Wehrmacht ließ beide Taschentypen auch schwarz umfärben. 

Sammler aufgepasst: Es existieren längst indische und polnische Repliken in sehr guter Qualität. Bleibt noch der aus Leder geflochtene polnische Fangriemen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ebenfalls aus Leder geflochtenen der dänischen FN HP, taucht praktisch aber nicht mehr auf. Bei Vorkommen eines solchen Stückes sollte man ganz genau hinsehen: Auch dies ein Indiz dafür, welchen Stellenwert die lange vergessene Radom heute im Feld der klassischen Ordonnanzpistolen innehat – zu Recht.


Text: Stefan Rudloff und Matthias S. Recktenwald

Diesen Artikel finden Sie auch in der VISIER 8/2021. Darin finden Sie auch eine vertiefte Beschreibung der Typen, Serien und Nummern. Das Heft ist im VS Medien-Shop auch digital Verfügbar.

Weitere Informationen zu Auktionen historischer (und moderner) Waffen, finden Sie beim Auktionshaus Hermann Historica.