Long Range jagdlich − was ballistisch zu beachten ist

Generelle Grundfertigkeiten für die Jagd auf weite Distanz:

Kudu stehend auf einem Felsen in Namibia
Auch bei der Jagd auf dem schwarzen Kontinent gibt es Situationen, die der alpinen Hochwildjagd ähneln, wie dieser in den Felsen stehende Kudu in Namibia zeigt.

Prinzipiell muss sich der Jäger mit den gleichen außenballistischen Einflussgrößen herumschlagen wie andere Long-Range-Schützen auch. Allerdings sind beim jagdlichen Weitschuss einige davon vernachlässigbar, wie etwa die Geschossdrift oder die Coriolis-Kraft. Das liegt einfach daran, dass sich diese Effekte auf die bei der Jagd vertretbaren Distanzen von etwas über 300 m noch nicht so stark auswirken können, um die Treffpunktlage wesentlich zu beeinflussen. In puncto Winddrift sieht das je nach dessen Geschwindigkeit und gewähltem Geschoss natürlich schon anders aus, so dass es sich auch hier empfiehlt, auf rasantere Kaliber mit gestreckterer Flugbahn und damit auch kürzerer Flugzeit zurückzugreifen. Allerdings kommt neben der Außenballistik beim jagdlichen Schuss ein ganz entscheidender Faktor hinzu:

Zielballistik: Die Wirkung im Wildkörper

Weit entfernte Marale in der mongolischen Steppe.
Weit stehende Marale in der monglischen Steppe. In dem offenen Gelände kann man sich diesen asiatischen Hirschen nicht auf allzunahe Schussdistanzen nähern.

Während der Sportschütze einen bestimmten Punkt/Bereich auf einer Fläche, zum Beispiel einer Zielscheibe oder einer Stahlplatte, treffen möchte, hat der Jäger es dagegen mit einem dreidimensionalen Ziel zu tun, dem Wildkörper. Nach dem sportlichen Treffer spielt es keine Rolle, in welchem Zustand und auf welchem Weg das Geschoss letztendlich im sicheren Kugelfang landet – das kann übrigens auch der Erdboden hinter der Papierscheibe oder vor der Stahlplatte sein. 

Ganz anders beim Schuss des Jägers auf ein Tier: Hier kommt es darauf an, dass das Projektil die Kreatur möglichst schnell und schmerzlos tötet. Das soll das Geschoss möglichst durch das Zerstören lebenswichtiger Organe oder das Herbeiführen eines schnellen, großen Blutverlusts gewährleisten. Dazu muss es aber nach dem Auftreffen auf den Wildkörper auch den Weg durch eben die entsprechenden Organe oder Gefäße nehmen, bevor es den Körper – möglichst mit einem (hier gewollten) Ausschuss – wieder verlässt. Probate Mittel dafür sind der sogenannte "Blatt-" oder "Kammerschuss". Unter "Kammer" versteht der Jäger den Bereich, in dem sich Herz, Lunge und die zwischen diesen verlaufenden großen Blutgefäßen befinden. Beim Schuss direkt aufs Schulterblatt vergrößern vom Geschoss herausgerissene Knochensplitter die Wunde innerhalb der Kammer meist zusätzlich, zerstören aber auch mehr Wildbret. Daher visieren viele Jäger eine Stelle unmittelbar hinter dem "Blatt" an, die aber sicher noch im Bereich der Kammer liegt. Befinden sich Jäger und Wild in etwa auf der gleichen Höhe im Gelände, sollte demnach ein auf der sogenannten Blattlinie im Bereich der Kammer eindringendes Geschoss selbige auch durchqueren.

Der weite Schuss im Gebirge 

Anders sieht es aber oft bei der Gebirgsjagd aus. Hier steht der Jäger häufig weit oberhalb oder unterhalb des Stückes, muss also einen Schuss in einem steilen Winkel abgeben. Und hier spielt dann wieder ein außenballistischer Faktor eine größere Rolle: die Erdanziehung. Die Gravitationskraft bewirkt, dass alle Dinge, die eine Masse haben, in Richtung Erdmittelpunkt gezogen werden, oder einfacher gesagt, senkrecht nach unten fallen, sofern keine anderen Kräfte auf sie wirken. Die Erdanziehungskraft ist also die Kraft, die die parabelförmige Flugbahnkurve eines Geschosses (natürlich vom Luftwiderstand beeinflusst) bedingt. Da die Erdanziehung zumindest bei den hier betrachteten Flug-/Schussweiten an jedem Punkt der Kurve mit der gleichen Kraft wirkt, bleibt der durch sie bedingte Geschossabfall in Bezug zur Flugzeit konstant. 

Ein grafisches Modell zeigt den Einfluss der Erdanziehung auf die Geschossflugbahn. Da die Fallstrecken (y) zu einer bestimmten Flugzeit (t) immer gleich sind, wird die Flugbahn bei steileren Schusswinkeln flacher und das Ziel (Z) somit überschossen.
Dieses vereinfachte Modell zeigt den Einfluss der Erdanziehung auf die Geschossflugbahn. Da die Fallstrecken(y) zu einer bestimmten Flugzeit (t)immer gleich sind, wird die Flugbahn bei steileren Schusswinkeln flacher und das Ziel (Z) somit überschossen.

Greift man also einen nach einer bestimmten Flugzeit erreichten Punkt des Geschosses auf der Flugbahn heraus, ist das Geschoss auch eine bestimmte Strecke gefallen. Die Strecke, die das Projektil bis zu besagtem Zeitpunkt gefallen ist, ändert sich auch dann nicht, wenn dasselbe Geschoss mit gleicher Mündungsgeschwindigkeit mit einem anderen Abgangswinkel die Mündung verlässt, sprich: im Falle der Gebirgsjagd der Lauf steil nach oben oder unten ausgerichtet wird (siehe hierzu auch Grafik links). Wer mal gesehen hat, wie sich eine Bahnschranke mit Behang öffnet, kann das wohl eher nachvollziehen. Hier hängen am Schrankenbalken drehbar in Ösen Metallstäbe, die ein Unterqueren der Schranke durch Fußgänger verhindern sollen. Am unteren Ende der Stäbe hängt, ebenfalls in deren Aufhängung drehbar gelagert, ein kleinerer Balken. Öffnet sich die Schranke, bleiben die Stäbe nun immer senkrecht und je steiler die Schranke nach oben steht, desto näher kommt das untere Ende eines jeden Stabes dem oberen Balken. Auf das Beispiel eines steil nach oben gefeuerten Schusses übertragen, entspricht der rot-weiße Schrankenbalken der nach oben geschwenkten Laufachse (= Abgangsrichtung) und der untere Balken entspricht hier der Flugbahn und die Stäbe dazwischen den Fallstecken des Geschosses. Wobei die Fallstrecken der Geschossflugbahn durch deren parabelförmigen Verlauf im Gegensatz zu den Stäben der Schranke natürlich nicht alle gleich lang sind. 

Bezogen auf die Flugbahnkurve resultiert aus der beschriebenen Annäherung an die Laufachse eine gestrecktere Flugbahn und damit eine Verlagerung des Punktes, an dem die Visierlinie die Flugbahn zum zweiten Mal schneidet (das sollte im Idealfall ja im Ziel sein) über die Zielentfernung hinaus. In der Praxis bedeutet dies nun, dass steile Schusswinkel zu einem Überschießen des Ziels (Hochschuss) führen können. Der Jäger muss also wissen, ab welcher Distanz und bei welchem Schusswinkel sich dieser Effekt bei der von ihm gewählten Waffen- und Munitionskombination so sehr bemerkbar macht, dass ein Anhalten auf der Blattlinie ein sicheres Durchschießen der Kammer gefährden würde und welchen Haltepunkt er anstelle dessen wählen muss. Für das Ermitteln des Schusswinkels sollte ein Laser-Entfernungsmesser zur Grundausstattung des alpinen Jägers gehören, der auch diesen Wert anzeigt.

Grafischer Vergleich von Geschoss- und Visierlinie Anhand einer Gams, Bergauf
Beim steilen Schuss bergauf kann es zu einem Überschießen des Zieles kommen, wenn auf der Blattlinie angehalten wird.
Grafischer Vergleich von Geschoss- und Visierlinie Anhand einer Gams, Bergab
Beim steilen Schuss bergab kann sich, je nach Winkelgröße, der Hochschuss auch positiv auf die Trefferlage auswirken.

Die Geschosswirkung auf bis zu 350 m

Projektilreste nach Beschuss eines Gelatineblocks
Diese Studie mit drei unterschiedlich schnell laborierten und auf einen Gelatine-Block abgefeuerten Lapua-Naturalis-Projektilen simuliert, wie sich ein Deformationsgeschoss auf unterschiedliche Schussentfernungen im Wildkörper verhält. Oben drüber liegt zum Vergleich ein intaktes Naturalis-Geschoss.

Doch in puncto waidgerechtem Erlegen des Wildes muss der jagdliche Long-Range-Schütze noch einen weiteren Aspekt beachten. Er muss wissen, welche Wirkung sein Geschoss auf eine weite Distanz im Ziel hat, um gegebenenfalls auch bei einem nicht optimal sitzenden Treffer noch die nötige letale Wirkung zu erzielen. Und das möglichst, ohne lange Nachsuchen in meist schwierigem Gelände zu riskieren. Moderne Jagdpatronen, seien es nun mit Deformatoren, Zerlegern, Teilzerlegern oder auch mit formstabilen Vollgeschossen laborierte, gewährleisten dies in Abhängigkeit vom Kaliber zuverlässig auch für stärkeres Wild, wie etwa Hirsch, Elch und große Antilopen, auf Entfernungen von 300 bis 350 m. 

Wer auf weitere Entfernungen abdrückt, sollte sich seiner Sache absolut sicher und aller genannten außen- wie zielballistischen Einflussgrößen bewusst sein. Aber beim geringsten Zweifel, den Treffer nicht dort antragen zu können, wo er auch die gewünschte Wirkung zeigt, lasse man lieber den Finger gerade.


Dieser Artikel ist im VISIER Special 86 erschienen. Dieses ist in unserem Online-Shop erhältlich.

Der Schuss auf weite Entfernungen kann beim MINOX Long-Range-Seminar erlernt werden.

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