Brandneu und schon von uns getestet: .375 Swiss P – das neue Scharfschützenkaliber von RUAG Ammotec

Europäische Hersteller sind eher nicht dafür bekannt, ständig neue Kaliber zu entwickeln. Sie decken mit ihrer Munition meist bestehende und etablierte Kaliber für den Bereich Sport, Jagd und Behörden ab. Der Grund dafür ist simpel: Entwicklung und Erprobung eines neuen Kalibers verschlingen Unsummen von Geld. Angefangen mit der Beschaffung oder Herstellung neuer Werkzeuge, der Suche oder gar Entwicklung eines geeigneten Treibladungspulvers, der Konstruktion und Fertigung neuer Geschosskonstruktionen, die vielschleifige Erprobung und Abstimmung der neuen Laborierungen, die Untersuchung der Waffenbelastung. Das kostet nicht selten siebenstellige Beträge und bindet Fachpersonal über Monate oder gar Jahre. Da versteht es sich von selbst, dass Munitionshersteller diese Aufgabe angehen, wenn es einen konkreten und greifbaren Bedarf gibt, zum Beispiel eine rasch wachsende Long-Range-Gemeinde oder ein neues Kaliber für ein Sturmgewehr.

Der Weg der Mitte: Wo ordnet sich die RUAG .375 Swiss P ein?

Vergleich der .338 Lapua Magnum (links) und der neuen .375 Swiss P-Munition von RUAG Ammotec.
Vergleich der .338 Lapua Magnum (links) und der neuen .375 Swiss P-Munition von RUAG Ammotec.

Die RUAG Ammotec AG aus dem schweizerischen Thun, die einen hervorragenden Ruf in der Fertigung von Munition für Behörden, Militär und Sonderanwendungen genießt, hat sich mit der Entwicklung der .375 Swiss P dieser Aufgabe gestellt. Der Anlass waren vermehrte Anfragen von Behörden und Spezialeinheiten nach einer leistungsstärkeren Patrone als der .338 Lapua Magnum. Diese soll eine Reichweite im Überschallbereich von mindestens 1.500 Metern haben und zum Beispiel mit Hartkerngeschossen ballistische Westen der Schutzklasse SK4 auf eine Distanz von 600 Metern sicher durchschlagen. Neben diesen außen- und zielballistischen Forderungen sollte die verwendete Waffe jedoch möglichst kompakt und leicht sein.

Obwohl die große Leistungslücke zwischen der .338 LM und der .50 Browning Machine Gun durch Kaliber wie die .375 CheyTac, die .408 CheyTac und die .416 Barrett hinreichend überbrückt wird, halten Waffen in diesen Kalibern nur vereinzelt und zögerlich Einzug in Spezialeinheiten. Neben Barrett, Chey-Tac, Desert Tech, Victrix und Voere haben kaum andere Hersteller taktische Präzisionsgewehre in diesen Kalibern im Bestand. Hinzu kommt eine äußerst schlechte Munitionsversorgung in Europa. Von Behörden gefragte Sondergeschosse wie Leuchtspur, Hartkern oder Hartkern-Brand sind teilweise gar nicht verfügbar. Erschwerend kommt hinzu, dass ganz aktuell die .375 und .408 Cheytac von der CIP-Kommission aus deren Standardisierung entfernt wurden. Auch fallen die Waffen in dieser Kalibergruppe nur unwesentlich kompakter und leichter aus als ihre Pendants in .50 BMG, jedoch mit deutlich geringerer Patronenleistung und Auswahl an Laborierungen.

Patrone .375 Swiss P und Schnittmodell
Die neue RUAG-Patrone .375 SWISS P, die wir hier auch im Querschnitt sehen, treibt ein 350-Grain-Geschoss mit 865 m/s an die Mündung.

RUAG Ammotec entschied sich daher für einen anderen Weg. Das neue Kaliber sollte mit gängigen Waffensystemen in .338 LM kompatibel sein. Um die neue Patrone verschießen zu können, muss lediglich der Lauf ausgetauscht werden, Verschluss und Magazin bleiben identisch. Dies bietet den großen Vorteil, dass die Anwender weiterhin mit ihrem vertrauten und erprobten Waffensystem arbeiten können. Für die Leistungssteigerung ist somit keine aufwändige und langwierige Ausschreibung und Erprobung sowie die kostenintensive Neuanschaffung eines Waffensystems notwendig. Die größenmäßige Beschränkung auf ein .338-LM-System unter Nutzung des gleichen Verschlusskopfes und Magazins setzt dem neuen Kaliber jedoch klare Grenzen. Die von der RUAG Ammotec angestrebte Leistungssteigerung in der Mündungsenergie (E0) gegenüber der .338 LM sollte rund 40 Prozent betragen. Geht man von einer durchschnittlichen E0 von etwa 6.100 Joule bei der .338 LM aus, so sollte das neue Kaliber eine Energie von etwa 8.500 Joule aus einem 30 Zoll (762 mm) langen Lauf erzielen. Doch wie erreicht man ein solches Ziel, wenn der Stoßbodendurchmesser, die Patronengesamtlänge mit 93,5 mm und ein maximaler Gasdruck von 4.200 bar bereits feststehen? Zwar lassen sich aus einem für dieses Kaliber optimierten Treibladungspulver und einem langen Lauf einige Prozente herauskitzeln, sicher aber nicht die gewünschten 40 Prozent.

Wie gelingt die Leistungssteigerung der RUAG .375 Swiss P?

Die Lösung heißt "Rebated Rim", eine Hülse mit eingezogenem Rand. Dabei ist der Hülsendurchmesser oberhalb der Auszieherrille größer als der Durchmesser des Hülsenbodens. Dadurch kann das Pulverraumvolumen gesteigert werden, bei gleichem Verschlusskopf. Diese Art von Patronen kennt man heute vor allem von Kalibern wie .450 Bushmaster, .458 SOCOM, .499 LWR und .50 Beowulf, vorgesehen für die Verwendung in AR-15-Systemen. Maßgeblich ist hier die Patronengesamtlänge.

Zu Beginn galt es, die theoretischen Berechnungen im Versuch zu verifizieren. Da es sich um eine Neuentwicklung handelt, konnte nicht auf Hülsen in diesem Kaliber zurückgegriffen werden. Daher suchte man, wie bei der Munitionsentwicklung üblich, eine artverwandte Hülse. Die Wahl fiel auf die .500 Jeffery (12,7x70 mm. Nachdem die Jeffery-Hülsen entsprechend modifiziert und ihr Hals eingezogen wurde, fanden mit 22,7 Gramm (350 grs) schweren HPBT-Matchgeschossen die ersten Versuche hinsichtlich Präzision und Reichweite statt.

Kern-Kompetenzen – Geschossaufbau der RUAG .375 Swiss P:

Nach erfolgreichem Abschluss der Vorversuche begann die Entwicklung eines Vollmantel- und eines Hartkerngeschosses. Da es auch für Scharfschützenanwendungen in zahlreichen Ländern Vorbehalte gegenüber HPBT-Geschossen mit Bleikern gibt, braucht man ein Vollmantelgeschoss mit einer gleichwertigen Präzisionsleistung. Neben Einhaltung geringster Fertigungstoleranzen und einer möglichst aerodynamischen Geschossspitzengeometrie ist auch die Lage des Geschossschwerpunktes von großer Bedeutung für die erreichbare Präzision. Der Schwerpunkt sollte möglichst weit in Richtung Geschossheck verlagert werden. Bei einem Hollow Point Boat Tail erreicht man dies, indem der Bleikern etwas zurückgesetzt positioniert wird, der vordere Teil der Geschossspitze bleibt hohl. Die RUAG Ammotec setzt daher bei ihrem neuen Vollmantelgeschoss auf eine Metallkugel in der Geschossspitze, die dort ein Leervolumen bildet und zudem eine geringere Dichte als der Bleikern aufweist. Zusätzlich wurde ein Verfahren zur Minimierung der Streuung der Geschossspitzengeometrie entwickelt, so dass die cw-Werte innerhalb eines Geschossloses nur minimal streuen – eine wichtige Bedingung für wiederholbare Schießergebnisse auf weite Distanzen. RUAG Ammotec gelang es sogar, den ballistischen Koeffizienten des Vollmantelgeschosses gegenüber dem HPBT-Geschoss zu verbessern.

Nicht nur bei dem Vollmantelgeschoss wendete die RUAG Ammotec ein neues Geschoss-Design an, sondern auch bei dem für militärische Einsätze sehr wichtigen Hartkerngeschoss. Bei dieser Art von Geschossen geht es v.a. um die Durchschlagskraft - zum Beispiel durch Glas oder durch Schutzwesten.

PGM Hecate II und Schale mit Patronen in .375 Swiss P
Für die Versuche auf einem Schweizer Schießplatz diente eine Hecate II von PGM als Testgewehr für die RUAG .375 Swiss P.

Das VISIER-Team überzeugte sich bereits im Sommer 2020 auf einem Schießplatz in den Schweizer Alpen selbst vom Lohn der Mühen. Auf Distanzen bis 1.500 Meter ließen sich Ziele von einer Winkelminute Größe reproduzierbar treffen. Dabei schoss sich die Testbüchse in Gestalt einer PGM Mini Hecate II durch ihre effektive Mündungsbremse sehr angenehm und lag vom Rückstoßimpuls in etwa auf dem Niveau einer .338 LM. Nicht nur auf dem Papier ist den Entwicklern das hochgesteckte Ziel der Entwicklung einer leistungsstarken Patrone für Distanzen bis 1.600 Meter gelungen. Kompliment.

Fazit nach dem ersten Test der RUAG .375 Swiss P:

Die RUAG Ammotec hat mit der neu entwickelten .375 Swiss P und zwei neuen Geschosskonstruktionen einmal mehr bewiesen, dass sie zu Recht einer der führenden Hersteller von Munition im Bereich Armee und Behörden ist. Insgesamt stellt das Kaliber .375 Swiss P eine niedrige Einstiegshürde für Waffenhersteller dar, da im Wesentlichen für eine Waffe in .338 LM nur ein spezifischer Lauf notwendig ist. Die Anwender profitieren von gesteigerter Leistung bei nahezu gleichem Waffen- und Munitionsgewicht und von Fabrikmunition zu einem entsprechenden Preis.

Den vollständigen Artikel mit allen Fakten zur Entwicklung, Technik und Schussverhalten der .375 Swiss P sowie umfangreichen Messwerten, Diagrammen und Tabellen finden Sie in VISIER 4/2021. Ab 31.3.2021 im Handel erhältlich oder im VS Medien Shop bestellbar.


Text: Christopher Hocke und Hamza Malalla

Weitere Informationen auf der Homepage der RUAG Ammotec AG.

Bezug: Die CIP listet die .375 Swiss P seit Mai 2018. Die Vollmantel-Laborierung wird ab April 2021 verfügbar sein, das Hartkerngeschoss voraussichtlich ab Ende 2021. Aktuell bieten PGM in der Mini Hecate II und Voere in der X3, X4 und X5 das neue Kaliber an, auch die TTS Xceed soll es in .375 Swiss P geben. Vorerst ist die .375 Swiss P nur für den behördlichen Anwender vorgesehen.

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