Die Mittelpatrone – Teil 1

Die gängigste Militärwaffe zu dieser Zeit war die Repetierbüchse. Sie war auf leistungsfähige Patronen wie .30-06, .303 British, 7,92 x 57 Mauser oder 7,62 x 54 R ausgelegt und hatte eine Reichweite von bis zu 900 Metern. Einige Büchsen verfügten zudem über eine Kimme, mit deren Hilfe noch deutlich weiter geschossen werden konnte – zumindest theoretisch. 

Enfield
Im Ersten Weltkrieg trugen Soldaten beider Seiten lange, schwere Repetierbüchsen wie diese britische Lee-Enfield No. 1 Mk III im Kaliber .303

Länge und Gewicht machten die Repetierbüchse jedoch zu einer unhandlichen und schwerfälligen Waffe. Ihre Kadenz lag bei erfahrenen Schützen bei etwa 20 Schuss pro Minute. Zwar sollen Berichten zufolge in Einzelfällen höhere Kadenzen erzielt worden sein, aber selbst das klassische Lee-Enfield Gewehr kam im Schnitt auf höchstens dreißig Schuss pro Minute, obwohl es durch sein besonders leichtgängiges und schnelles Verschlusssystem und eine Magazinkapazität von 10 Schuss (doppelt so viel wie bei den meisten anderen Militärgewehren dieser Zeit) für seine hohe Kadenz berühmt war.

Das Gewehr war um die Jahrhundertwende die Standardwaffe des Soldaten. Aber auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges dominierte eine andere Waffe, die die Männer das Fürchten lehrte: das Maschinengewehr. Zu dieser Zeit ein Wunder der modernen Technik, erreichte dieses vollautomatische Gewehr eine Kadenz von 500 bis 800 Schuss pro Minute. Im offenen Gelände konnte diese Waffe eine Kompanie Infanteristen innerhalb weniger Sekunden niedermachen. Allerdings war sie noch schwerfälliger als die Repetierbüchse und konnte, ähnlich wie Artilleriegeschütze, nur von quasi stationären Positionen aus geschossen werden.

Rare VB Prototype
Nach dem Ersten Weltkrieg war Italien führend bei der Konstruktion von Maschinenpistolen. Hier im Bild ein extrem seltener VB-Prototyp (vermutlich Vincenzo Bernardelli)
Thompson
Eine der Maschinenpistolen mit Kultstatus ist die Thompson. Sie war gleichzeitig eine der dienstältesten Waffen der US-Armee und sehr beliebt bei Gangstern und Soldaten der 30er Jahre

Das war der große Augenblick der Maschinenpistole: vollautomatisch wie ein Maschinengewehr, aber geladen mit Pistolenmunition statt Gewehrpatronen. Dadurch konnte das Gewicht reduziert und eine höhere Kadenz erzielt werden (einige der frühen Maschinenpistolen schafften problemlos über 1000 Schuss pro Minute). Und was am wichtigsten war: Diese Waffe war wirklich tragbar und in den meisten Fällen sogar noch handlicher als eine Repetierbüchse. So kam es, dass sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Maschinenpistolen bei Armeen, Polizeikräften und Kriminellen auf der ganzen Welt enormer Beliebtheit erfreuten.  Hauptnachteil der Maschinenpistole war das, was ihre Konstruktion erst möglich machte: die verwendeten Patronen. 

Die deutsche MP40-Maschinenpistole aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs war für das Kaliber 9 x 19 mm konstruiert

Pistolenmunition hatte trotz der längeren Läufe der Maschinenpistolen nur eine geringe Reichweite und - verglichen mit der Zerstörungskraft von Gewehrpatronen – relativ wenig Wirkung im Ziel. Auf kurze Entfernung machte der wahre Geschosshagel, den MPs entfesseln können, diesen Nachteil wieder wett. Aber auf größere Entfernungen machte die Streuung der Geschosse einen Treffer recht unwahrscheinlich.

Mauser K98 und Springfield 1903

Gefechtsanalysen nach dem Ersten Weltkrieg und den ersten Phasen des Zweiten Weltkriegs führten zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Kampfhandlungen fanden in erster Linie auf einer Distanz von maximal 300 Metern statt, deutlich unter der 1.000‑Meter‑Reichweite, die das Gewehr erzielen konnte. Und angesichts der geringen Übungsmöglichkeiten in Kriegszeiten war es sowieso sehr unwahrscheinlich, dass die Soldaten auf über 500 Meter Distanz treffen würden. 

Deshalb ersetzten die meisten Streitkräfte erst einmal das Langgewehr durch eine kompaktere Karabinerkonstruktion. Diese war tatsächlich leichter und handlicher, doch das reichte nicht. Der Rückstoß bei leichteren Gewehren war stärker, und ihre Munition hatte deutlich mehr Feuerkraft, als unter realistischen Bedingungen notwendig war.

Es gab also eine operative Lücke zwischen dem Maschinengewehr mit hoher Kadenz und schwacher Pistolenmunition und der starken Repetierbüchse mit ihrer niedrigen Kadenz.

The italian 6,5 mm Carcano
Die italienische Carcano 6,5 mm ist einer der ersten Versuche einer Mittelpatrone

Die Lösung: Das Konzept der Mittelpatrone

Maschinengewehre hatten die Nützlichkeit von Unterstützungsfeuer im Gefecht deutlich gemacht: ein intensiver Beschuss, der den Gegner in seiner Deckung praktisch bewegungsunfähig macht. Darum sahen die modernsten Streitkräfte der damaligen Zeit eine vollautomatische und gleichzeitig mobile Waffe mittlerer Reichweite als äußerst hilfreich an (andere Armeen konzentrierten sich weiter auf die bei kleinlichen Wehrverwaltern so beliebte Munitionsökonomie, ein damals schon längst überholtes Konzept).

Die Lösung war eine Mischung zwischen Gewehr- und Pistolenpatrone, die die Vorzüge beider Munitionsarten in sich vereinigte: vollautomatische Leistung aus einer tragbaren, kompakten Waffe, die wie eine Maschinenpistole Unterstützungsfeuer leisten und gleichzeitig wie ein Gewehr Ziele auf realistische Gefechtsdistanzen von 300 Metern bekämpfen konnte.  

German StG 44
Das deutsche StG 44 war das erste Sturmgewehr. Die vorgesehene Munition war die 7,92 x 33 Kurz, eine Mittelpatrone
Die 7,92 x 33 oder 8 Kurz war die erste richtige Mittelpatrone

Die Deutschen erkannten den Sinn solcher Munition als Erste, kürzten 7,92-Mauser-Patronen und passten sie an das Sturmgewehr 44 an. Heraus kam die 7,92 x 33 Kurz. Der Begriff Sturmgewehr (StG) stammt von Hitler selbst, dem der vorgeschlagene Begriff Maschinenpistole nicht aggressiv genug war. So wurde eine ganz neue Typenbezeichnung geprägt.

Das chinesische Typ 56 AK, umgeben von Patronen 7,62 x 39 mit Stahlhülsen

Die Russen mit ihrer pragmatischen Art der Kriegsführung zogen mit der 7,62 x 39 nach. Ein echtes Sturmgewehr entwickelten sie jedoch erst drei Jahre nach den Deutschen: das AK-47, bis heute der Inbegriff des Sturmgewehrs.

Die anderen westlichen Alliierten schreckten zunächst vor dem Konzept zurück oder setzten es nur teilweise um. So entstand die 7,62 x 51 NATO, eine „Mittelpatrone“ auf Grundlage der verkürzten .30-06, faktisch jedoch immer noch eine vollständige Gewehrpatrone.

7.62x54R, .303, .30-06 and 5,56 NATO
Von links nach rechts: 7,62 x 54 R, .303, .30-06 und 5,56 NATO

FN FAL, M14, H&K G3 und Beretta BM-59 waren immer noch recht schwer und schwerfällig und wegen ihres Rückstoßes im vollautomatischen Modus nur beschränkt sinnvoll. 

Erst in den späten 1960er Jahren sollten die USA das Konzept der Mittelpatrone nicht nur ganz übernehmen, sondern sogar noch einen Schritt weiter gehen: Durch eine weitere Verringerung von Kaliber und Feuerkraft entstand die 5,56 NATO. Diese unscheinbare Patrone und das dafür vorgesehene Gewehr, das M-16, sollten das Sturmgewehr völlig neu definieren und setzten sich schließlich weltweit durch. Sogar die Russen entwickelten eine eigene Version, die Patrone 5,45 x 39, die 1974 von den Staaten des Warschauer Paktes übernommen wurde. Da das Kaliber 5,56 erst 1977 offiziell von der NATO übernommen wurde, sind beide Patronen etwa zeitgleich eingeführt worden.

Sgt. Keenan Rheaves, a platoon sergeant with 11th Marine Expeditionary Unit 
Keenan Rheaves, Platoon Sergeant bei der 11. Marine Expeditionary Unit der US-Marineinfanterie, zielt mit seinem M4-Sturmgewehr mit 5,56 NATO auf das Übungsziel

Durch die 5,56 NATO konnten Soldaten bei gleichem Gewicht mehr Munition tragen. Sie war preiswerter als die 7,62 NATO und die 7,62 x 39, wies eine flachere Flugbahn auf und hatte einen so geringen Rückstoß, dass auf kurze Entfernungen gezieltes automatisches Schießen möglich war. 

Noch heute werden Vorzüge und Nachteile der Mittelpatrone heiß debattiert. Manche halten die 5,56 für das Maß aller Dinge, andere unterstützen seit jeher die 7,62 x 51. Diese Debatte hat neue Mittelpatronen hervorgebracht, die die zahlreichen Vorzüge der zierlichen 5,56 beibehalten und ihre Nachteile ausgleichen sollen. Überraschenderweise (oder auch nicht) weisen viele davon zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der 7,62 x 39 und der 7,92 x 33 auf, mit denen alles anfing. 

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